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1) Vor der Reformation

Es mag einige überraschen: Die Prädestinationslehre war erst am Ende des vierten Jahrhunderts Gegenstand der Untersuchung. Die frühen Kirchenväter hatten den Schwerpunkt noch auf gute Werke als Basis der Erlösung gelegt, auf Glauben, Reue, Almosengeben, Gebet und Taufe. Zwar lehrten sie, dass die Erlösung durch Christus erlangt wird, doch sie unterstellten, dass der Mensch über Annahme oder Ablehnung des Evangeliums selber entscheide. Einige ihrer Schriften enthalten wohl Passagen, die die Allherrschaft Gottes konstatieren, doch gleichzeitig behaupteten sie die Freiheit des menschlichen Willens. Da sie beides nicht vereinen konnten, hätten sie die Lehre von der Prädestination abgelehnt, und vielleicht sogar die Lehre von Gottes Voraussicht. Sie lehrten eine Art Zusammenwirken von Gnade und freiem Willen. Es ist dem Menschen immer schon schwer gefallen, die Idee fallen zu lassen, dass man zur eigenen Erlösung möglicherweise gar nichts beitragen kann. Erst im Laufe der Zeit entdeckte man die Wahrheit: Die Erlösung ist die freie Gabe Gottes, der sie ungeachtet menschlicher Verdienste gewährt. Dieses Geschenk steht von Ewigkeit her fest. Gott allein ist der Urheber des Geschenks und auch all seiner Vergünstigungen. Diese kapitale Wahrheit hat erst Augustinus klar gesehen, jener geisterfüllte Theologe des Weströmischen Reiches. In seinen Lehren von Sünde und Gnade ging er weit über die Ansichten damaliger Zeitgenossen hinaus: Er lehrte die Gnadenwahl (die unbedingte Erwählung) und beschränkte die Absicht der Erlösung auf den Kreis der Erwählten. Kein Kenner der Kirchengeschichte wird die Größe Augustins leugnen — seine Werke haben der gesunden Lehre zu mehr Ansehen verholfen und zur Wiederbelebung der Religion mehr beigetragen als irgend jemand sonst zwischen Paulus und Luther.

Vor den Tagen Augustins hatte man mehr mit der Bekämpfung von Irrlehren und der Abweisung heidnischer Angriffe innerhalb der Kirche zu tun — umso weniger Zeit hatte man daher auch, die Theologie in ein System zu bringen. Die Prädestinationslehre wurde schon deshalb sehr vernachlässigt, weil sie immer in Gefahr gestanden hatte, mit der heidnischen Lehre des Fatalismus verwechselt zu werden, wie diese im gesamten römischen Reich kursierte. Als sich im vierten Jahrhundert die Wellen glätteten, war die Ära einer neuen Theologie eingeleitet; man achtete verstärkt auf die Lehrverkündigung. Augustinus entwickelte seine Lehren von Sünde und Gnade teilweise vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrung und aus der Notwendigkeit heraus, die Irrlehren des Pelagius zu widerlegen, der lehrte, dass der Mensch in seinem natürlichen Zustand sehr wohl in der Lage sei, sich die Erlösung zu erwirken. Pelagius war der Ansicht, dass Adams Fall nur wenig Auswirkung auf die menschliche Rasse hatte, außer eben, dass er ein schlechtes Beispiel abgab, das nun von jedem Menschen wiederholt würde. Weiters war er der Ansicht, das Leben Christi habe hauptsächlich Vorbildwirkung; sein Tod habe nur wenig mehr bedeutet als der Tod jedes christlichen Märtyrers; überdies werde der Mensch von keiner göttlichen Vorsehung geleitet.

Die Ansichten Augustinus traten dieser Ansicht entschieden entgegen: Augustinus lehrte, dass in Adam die ganze Menschheit gefallen sei und daher alle Menschen von Natur aus verderbt und geistlich tot sind. Der Wille des Menschen ist frei zu sündigen, aber nicht frei, das zu tun, was Gott gefällt. Christus litt stellvertretend für sein Volk. Gott erwählt, wen er erwählt, ganz seinem freien Willen gemäß und ohne dabei menschliche Verdienste zu berücksichtigen. Die rettende Gnade wird dem Menschen vom Heiligen Geist eingestiftet. Damit war Augustin der erste, der Paulus hier richtig interpretierte. Seinem Erfolg ist es zuzuschreiben, dass die Kirche Christi diese Lehre annahm.

Augustinus hierin zu folgen bedeutete damals nicht Fortschritt, sondern Rückschritt! Die Menschen waren in tiefe Unwissenheit gesunken. Die Kirche wurde zum Ritual, die Erlösung schrieb man dem Wirken der Kirche zu. Ein System der Verdienste wuchs heran, das seinen Höhepunkt im Ablasshandel erreichte. Das Papsttum kam nach und nach zu immer größerer Macht, nicht nur kirchlicher, sondern auch politischer. Die Moral sank in ganz Europa auf ein unerträgliches Niveau. Sogar der Priesterstand war von Korruption zerfressen; die Sünden und Laster, die Päpste wie Johannes XXIII. und Alexander VI. beschmutzten, sind beispielhaft für den Tiefststand der Moral.

Die Prädestinationslehre war in der Zeit von Augustin bis zur Reformation beinahe vergessen worden. Nur zwei Namen sollen an dieser Stelle erwähnt werden: Gottschalk, der für das Verkünden der Prädestinationslehre verurteilt und eingesperrt wurde und Wycliffe, der »Morgenstern der Reformation«, der in England lebte. Wycliffe war ein Reformator calvinistischer Prägung; er betonte die absolute Souveränität Gottes und die Vorherbestimmung aller Dinge. Sein Glaubenssystem war dem sehr ähnlich, das später Luther und Calvin lehren sollten. Auch die Waldenser müssen erwähnt werden; sie waren in gewissem Sinne »Calvinisten« vor der Reformation; die Prädestination zählte zu einer ihrer Dogmen.

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