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2) Die Reformation

Die Reformation war die wesenhafte Erneuerung des Augustinianismus; durch sie fand die evangelische Christenheit wieder zu sich. Man erinnere sich: Luther, der erste Führer der Reformation, war ein Augustinermönch — und nicht zuletzt diesem Umstand ist Luthers große Formel von der Rechtfertigung allein aus Glauben zu verdanken. Luther, Calvin, Zwingli und all die bedeutenden Reformatoren ihrer Zeit waren durch und durch Prädestinatianer. In seinem Hauptwerk »Vom unfreien Willen« stand Luther vehement für diese Lehre ein — wie alle anderen Reformatoren auch. Melanchthon nannte die Prädestination in seinen frühen Schriften das fundamentale Prinzip des Christentums. Später sollte er seine Meinung dann zugunsten eines Synergismus von Glaube und Werk revidieren, nach dem Gott und Mensch im Prozess der Erlösung zusammenwirken. Somit wurde die Position der lutherischen Kirche allmählich untergraben. Spätere Lutheraner verabschiedeten diese Lehre dann in ihrer calvinistischen Form und gingen zu einer Lehre von universeller Gnade und Sühne über. Diese Lehre sollte dann zur offiziellen Lehre der lutherischen Kirche werden. In Bezug auf diese Lehre steht Luther zur lutherischen Kirche wie Augustin zur römisch-katholischen Kirche: beides Häretiker292292     Häresie (von griechisch αἵρεσις, haíresis „Wahl, Auswahl“) bedeutet im frühchristlichen Griechisch Wahl des Glaubens  (A. d. Ü.). von unantastbarer Autorität, wurden sie mehr bewundert als getadelt.

Calvin baute stark auf das Fundament Luthers. Seine größere Scharfsicht in Fragen der grundlegenden Prinzipien der Reformation prädestinierten ihn dafür, jene Prinzipien auf breiter Basis zu entwickeln. Es ist zu bemerken, dass Luther sich auf die Erlösung allein aus Glauben eingeschossen hatte, diese allerdings aus einem mehr oder weniger subjektiven und anthropologischen Blickwinkel sah, während Calvin die Betonung auf die unumschränkte Herrschaft Gottes legte und damit ein  objektiveres, ›theologischeres‹ Prinzip verfolgte. Das Luthertum findet nach langer und schmerzvoller Suche die Erlösung und sonnt sich ab sofort in der Gegenwart Gottes, während der Calvinismus sich an dieser Stelle noch nicht zufrieden gibt; er fragt, wie und weshalb Gott den Menschen überhaupt gerettet hat?

Froude schreibt:

»Die lutherischen Versammlungen hatten sich dem Aberglauben nicht ganz entrissen. Der Kampf der Extreme ließ sie schrumpfen. Ein halbes Maß jedoch bedeutete Halbherzigkeit: Die Überzeugungen waren unvollkommen, die Wahrheit hatte den Makel des Irrtums an sich. Ein halbes Maß war aber zu wenig, die Freudenfeuer Philips von Spanien zu dämmen oder Männer in Frankreich und Schottland zu stellen, die dem Hause Lothringen ebenbürtig gewesen wären. Die Reformatoren brauchten klarere Formulierungen und einen ernsthaften Führer — sie fanden diesen Anführer in Johannes Calvin. … Schwere Zeiten verlangen nach kraftvollen Männern, nach Geistern, die es vermögen, bis zu den Wurzeln zu gelangen, wo sich Wahrheit und Lüge gegenüber stehen. Es steht schlecht um die Kämpfer des Glaubens, wenn ‚das Verfluchte‘ im Lager weilt. Man muss Calvin eines zugestehen: Niemand war in der Lage, mit so scharfem Verstand die Flecken im Glaubensbekenntnis der Kirche zu sehen wie er, auch ging kein anderer Reformator mit solchem Eifer zu Sache, auszureißen und zu vernichten, was als falsch erkannt wurde; niemand war so bemüht wie er, sich im Leben in allen Dingen von der Wahrheit regieren zu lassen.«293293     Froude, Calvinism, s. 42.

Soweit das Zeugnis des berühmten Historikers der Universität Oxford. Froude lässt keinen Zweifel an seiner negativen Einstellung gegenüber dem Calvinismus aufkommen, und er ist mitunter als Kritiker des Calvinismus bezeichnet worden. Diese Worte zeigen aber die vorurteilslose Sicht eines großen Historikers, der mit großer Gelehrsamkeit das System und jenen Mann betrachtet, dessen Namen es trägt. In einem anderen Zusammenhang sagt Froude einmal:

»Man hat die Calvinisten als untolerant bezeichnet. Die Intoleranz gegenüber einem Feind, der versucht, einen zu töten, halte ich allerdings für einen entschuldbaren Geisteszustand. … Die Katholiken haben entschieden, ihrem unglaubwürdigen Glaubensbekenntnis einen weiteren Artikel hinzuzufügen: dieser Artikel sollte ihnen das Recht einräumen, Abweichler zu hängen und zu verbrennen. Die Calvinisten haben dagegen mit der Bibel in der Hand im Namen Gottes Einspruch erhoben. Es hat sie unsanfter gemacht, eifernder und — wenn der Ausdruck gestattet ist — fanatischer. Ihre Reaktion war nur natürlich. Sie lebten, wie fromme Menschen oft leben: in Leid und Sorge, doch unter der allbestimmenden Vorsehung. Ihre Last wurde ihnen unter dem Bewusstsein leichter, dass Gott es so bestimmt hatte. Sie zogen jeden Mann in Westeuropa an, der ‚der Lüge feind’ war. Sie wurden zerschlagen, erhoben sich aber immer wieder. Sie wurden zersplittert und zerrissen, doch keine Macht der Welt konnte sie einschmelzen. Nichts hassten sie mehr als Verlogenheit, Unreinheit und Laster aller Art, sowie sie ihnen begegneten. Was in England und Schottland heute noch an bewusster Ablehnung des Bösen existiert, ist dem Rest jener Überzeugungen zuzuschreiben, die der Calvinismus dem Menschen ins Gewissen brannte. Obgleich sie die römische Religion nicht überwinden konnten (eine Lehrmeinung kann sich ja sehr lange halten), haben sie ihr die Klauen gezogen — sie zwangen sie, ihr abscheuliches Prinzip aufzugeben, nämlich jene zu ermorden, die ihre Lehre ablehnten, ja, man muss sogar sagen, dass gerade dadurch, dass der Calvinismus Rom in dieser Sache beschämt hat, er seine Wiederbelebung möglich gemacht hat.«294294     Ebd., S. 44.

Die lutherische Kirche hat mit der römischen Kirche nicht auf diese Weise gebrochen wie die Reformierten. Es ist sogar so, dass einige Lutheraner sich noch mit Stolz als »gemäßigte Reformierte« bezeichnen. Die Heilige Schrift galt als einzige und letzte Autorität allen Protestanten, nur die Lutheraner behielten vom alten System noch so viel bei, wie sie nicht entbehren mussten, während die Reformierten dazu übergangen, alles hinauszuwerfen, was nicht behalten werden musste. Was die Beziehungen zwischen Kirche und Staat anlangt, erlaubten die Lutheraner dem Staat nicht nur, die Kirche zu beeinflussen, sondern sogar, das Glaubenssystem selbst innerhalb seiner Grenzen zu bestimmen — eine Tendenz, die direkt in die Staatskirche münden musste —, während die Reformierten schon sehr bald auf der Trennung von Kirche und Staat bestanden.

Wie schon vorher gesagt, war die Reformation im Wesentlichen die Wiedergeburt des Augustinianismus. Die frühen Lutheraner hatten in Bezug auf die Erbsünde, die Erwählung, die wirksame Gnade, das Beharren der Heiligen usw. noch die gleichen Anschauungen wie die Reformierten. Dies war der wahre Protestantismus.

»Der Grundsatz der absoluten Prädestination war die herkulische Macht der jungen Reformation, womit nicht nur in Deutschland die Schlangen des Aberglaubens und des Götzendienstes erwürgt worden waren. Wenn dieser Grundsatz auch in seiner ersten Heimat seine Energie verloren hat, so blieb er doch Mark und Rückgrat des reformierten Glaubens, jene Kraft, die diesen Glauben siegreich durch alle Kämpfe und Versuchungen getragen hat.«295295     Philip Schaff, History of the Reformation, S. 224.

Rice sagt:

»Es spricht Bände für den Calvinismus, dass die berühmteste Revolution der Kirchengeschichte seit den Tagen der Apostel, ja, die berühmteste Revolution der ganzen Welt durch den Segen Gottes initiiert wurde, der auf ihren Lehren lag.«296296     Rice, God Sovereign and Man Free, S. 14.

Es braucht nicht extra hervorgehoben werden, dass der Arminianimus als eigene Lehre in den Tagen der Reformation nicht existierte. Erst 1784, etwa 260 Jahre später, ist er von einer organisierten Kirche verfochten worden. Genau wie im fünften Jahrhundert gab es auch jetzt wieder zwei konkurrierende Systeme. Im fünften Jahrhundert kannte man den Augustinianismus und den Pelagianismus, etwas später kam es zum Kompromiss des Semi-Pelagianismus. Nach der Reformation gab es zwei Systeme: den Protestantismus und den römischen Katholizismus. Und auch da wuchs eine Kompromisslösung hervor: der Arminianismus, den wir auch Semi-Pelagianismus nennen könnten. In beiden Fällen handelte es sich um zwei sich bekämpfende Systeme, die zu einem Kompromiss geführt hatten.


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